Kurz erklärt

Unsere Japanische Schwester

Züge im Design des Bernina Express, ein Café, das «St. Moritz» heisst, und all dies eingebettet in wunderschöne Landschaft. Aber: Nicht in Graubünden, sondern im Südwesten von Tokio!

Franz Bamert, Redakteur, 26. April 2022

Es gibt Freundschaften, die dauern ein paar Jahre und fransen dann aus. Dann gibt es Freundschaften, die dauern ein Leben lang. Das sind schon seltene Verbindungen. Und dann gibt es noch Freundschaften, die überdauern Generationen. Die sind so kostbar, dass man sie gar nicht genug schätzen kann. Von einer solchen ist hier die Rede. Man schrieb das Jahr 1912 und ein Herr Handa, dessen Vorname heute niemand mehr kennt, hörte im fernen Japan von einem Wunderwerk in den Schweizer Bergen, von einer neuen Bahn mit 55 Tunnels, 196 Brücken und Steigungen von bis zu 70 Promille. Einer Bahn, die von Graubünden vorbei an Gletschern ins fast mediterrane Klima Norditaliens fährt. So etwas war zu jener Zeit unerhört und Herr Handa, seines Zeichens Ingenieur, machte sich auf, dieses Wunderwerk mit eigenen Augen zu sehen. Er suchte im Auftrag der Hakone Tozan Railway Vorbilder für die Trassierung einer Bahn im topografisch schwierigen Gebiet Hakone – einer beliebten touristischen Region im Südwesten Tokios. Und so reiste der japanische Ingenieur per Schiff und Bahn um die Welt und kam nach Graubünden. Das System der Adhäsionsbahn auf der Berninalinie, die locker einen Höhenunterschied von 1 824 Metern überwindet, überzeugte ihn auf Anhieb. So wurde die Hakone-Linie nach demselben Prinzip wie die Berninabahn der RhB errichtet – und die Freundschaft nahm ihren Anfang.
 

Zwei Schwestern

In jeder Beziehung gibt es Durststrecken, so auch zwischen der RhB und der Hakone Tozan Railway. Das ist vor dem Hintergrund der damaligen Zeit verständlich: kein Internet, keine Flugverbindungen. Dafür ein Erster Weltkrieg, dann eine monströse globale Wirtschaftskrise und danach grad nochmals ein Weltkrieg. Trotz all dieser Desaster erkaltete die Freundschaft nie ganz und 1979 erblühte sie gar von Neuem. Man schloss Blutsschwesternschaft zwischen den beiden Bahnlinien und die geschwisterliche Liebe ist seither nie mehr erloschen. Im Gegenteil. «Seit jener Zeit tauschen wir bahntechnisches Wissen, immer häufiger auch touristische Erfahrungen aus», weiss Sebastian Blättler, Market Manager Asia-Pacific bei der RhB. «Dafür – und zur Pflege unserer Freundschaft – besuchen wir uns gegenseitig regelmässig. Im einen Jahr kommen die Japaner, im nächsten Jahr besuchen wir sie in Hakone.»
 

Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft

Bereits 1982 überbrachte die RhB zwei Kuhglocken zur Einweihung der Station Gora nach Japan. Dort hängen sie bis heute. Beziehungen beruhen auch immer auf Gegenseitigkeit und 1984 wurden als Zeichen der Verbundenheit auf der Berninalinie zusätzliche Tafeln mit den Stationsnamen St. Moritz, Alp Grüm und Tirano in japanischer Schrift angebracht. Seit 1991 trägt zudem ein RhB-Triebfahrzeug die Bezeichnung «Hakone» und das japanische Nationalsymbol, die aufgehende Sonne. Im Gegenzug fährt in Japan seit 2009 eine ganze Komposition der Hakone Tozan Railway in einem vollständig dem Glacier Express entsprechenden Design. Zudem werden auf weiteren Linien drei Wagen im Design des Bernina Express eingesetzt. Und in der Station Gora gibt es gar ein Café mit dem Namen St. Moritz.
 

Graubünden in Ehren: In der Japanischen Station Gora gibt es ein Café St. Moritz

Stationsschild Bernina Diavolezza

Lust aufs Original

Doch es bleibt nicht nur bei Geschenken und Erfahrungsaustausch, es geht auch um Mehrwert für alle Beteiligten. «Hakone ist eine wunderschöne Gegend und hat viele Parallelen zu Graubünden», weiss Blättler. Beide Regionen sind von den nächsten Grossstädten, nämlich Tokio respektive Zürich, in einer anderthalbstündigen Bahnfahrt zu erreichen. Sowohl Graubünden als auch Hakone sind touristische Magnete, die Gäste aus der ganzen Welt anziehen. Und für beide Gebiete ist die Bahn die touristische Lebensader. «Wenn wir dort präsent sind, hat das enorme Ausstrahlung auf Japan und darüber hinaus auf viele asiatische Länder», so Blättler weiter. Dass die Berninalinie und mit ihr die ganze RhB in Hakone ins rechte Licht gerückt wird, dafür sorgt Schweiz Tourismus – so etwas wie die dritte Schwester im Bunde. Wenn also die asiatischen Gäste eine kleine Version der Berninabahn in Japan sehen, weckt das bei diesen die Lust aufs Original. Und dieses Original steht nun mal in der schönsten Ecke der Schweiz. Der Schweiz? Ach was – in der schönsten Ecke Europas. Eben in Graubünden.
 

Die Hakone Railway fährt an Kirschbäumen vorbei. ©Endo Katsura

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